Hallo zusammen,
ich war in den letzten Monaten hauptsächlich im Pedelec-Forum aktiv und habe hier auch stets passiv mitgelesen. Seit kurzem bin ich Besitzer eines Tern GSD S10 (Gen 2, 2021) und wage mich hier im Forum nun auch mal aus der Deckung
Meine Einschätzung zu der Frage von
@nikelrahred und
@thurse (S10 vs S00) lautet wie folgt:
Der Unterschied der beiden Modelle liegt ja (abgesehen von den angebotenen Farben) beim Antrieb. Das S10 hat eine Shimano Deore-Kettenschaltung, das S00 eine Enviolo-Cargonabe mit Gates-Riemen. Die UVP der beiden Modelle (Stand heute) unterscheidet sich um 1.000 EUR, im Straßenpreis beträgt der Unterschied ca. 800 EUR.
Ich versuche die
Unterschiede zwischen den Modellen / Antriebskonzepten mal anhand verschiedener Kategorien aufzuzeigen:
Wartung (1): die Kettenschaltung erfordert mehr Pflege: regelmäßiges Ölen der Kette (insb. bei häufigen Regenfahrten), Überprüfung des Kettenverschleisses (Tipp: Kettenlehre Park Tool CC-2) und rechtzeitiger Tausch, gleiches gilt für die Ritzel (die halten recht lange, solange man die Kette rechtzeitig tauscht und die Schaltung nicht durch Fehlbedienung gequält wird, s.u.). Gelegentlich muss der Schaltzug nachjustiert werden, aber das gilt vermutlich auch für die Enviolo-Nabe. Die Enviolo ist (in der Theorie) wartungsfrei, der Gates-Riemen hält normalerweise viele tausend km.
Wartung (2): bei einem Defekt ist die Kettenschaltung leicht zu reparieren, da modular, alle Komponenten können einzeln getauscht werden. Zudem sind Shimano-Ersatzteile (normalerweise) überall verfügbar, sowie auch Mechaniker die sich damit auskennen. Die Enviolo ist ein geschlossenes System und muss bei einem Defekt komplett getauscht werden, das kann teuer und langwierig werden.
Wartung (3): der Ausbau des Hinterrades ist bei einer Kettenschaltung recht einfach, das bekommt man auch unterwegs hin (z. B. bei einem Plattfuß). Ich weiss leider nicht, ob das beim Gates-Riemen ähnlich einfach ist.
Laufkultur: ein Riemenantrieb (S00) läuft naturgemäß deutlich leiser als ein Kettenantrieb (S10).
Schaltkomfort: Die Enviolo ist stufenlos schaltbar und erlaubt damit eine sehr feine Anpassung des Tretwiderstandes. Zudem kann der Gang auch im Stand geändert werden, was im Stadtverkehr sehr praktisch ist, besonders für ungeübte Fahrer.
Robustheit gegen Fehlbedienung: beim Fahren mit der Enviolo kann man im Grunde nichts falsch machen: einfach mit der rechten Hand drehen bis es passt. Das Fahren mit Kettenschaltung will gelernt sein, man muss vorausschauend fahren und schalten. Grobe Bedienfehler (bspw. Schalten unter starker Last) können dazu führen, dass Zähne der Ritzel abbrechen oder gar die Kette reisst. Wenn man vergisst vor einem Anstieg rechtzeitig auf ein großes Ritzel zu schalten, muss man notfalls nochmal ein Stück bergab fahren um den Gang zu wechseln.
Zuverlässigkeit / Langlebigkeit: Kettenschaltungen sind seit Jahrzehnten bewährt und gelten als äußerst zuverlässig. Eine Kettenschaltung kann man prinzipiell lebenslang nutzen, da alle Teile einzeln getauscht werden können. Bitte beachten: das Schaltwerk der Kettenschaltung hängt aufgrund der kleinen Radgröße (20 Zoll) beim GSD sehr tief und kommt dem Hinterrad sehr nah, wenn man auf das größte Ritzel schaltet. Man muss also ein wenig aufpassen, falls man sich mal in gröberes Gelände wagt (sicherlich ist das für die meisten von uns nicht der typische Einsatzzweck). Nabenschaltungen verschleißen und müssen irgendwann komplett getauscht werden. Zur typischen Lebensdauer der Enviolo ist mir leider nichts bekannt, aber da das Getriebe berührungsfrei in einem Ölbad läuft würde ich von einer langen Lebensdauer ausgehen. Im Pedelecforum liest man zur Enviolo gelegentlich etwas über reißende Züge sowie Ölverluste.
Anpassbarkeit: theoretisch besteht bei der Kettenschaltung die Möglichkeit, eine andere Übersetzung als die verbaute 11-36 zu wählen, bspw. mit einem Berggang mit 42 Zähnen. Ich weiss allerdings nicht, ob das mit dem Schaltwerk kompatibel ist. Bei der Enviolo ist so eine Anpassung nicht möglich, man muss mit der gelieferten Übersetzung leben.
Wirkungsgrad: die Kettenschaltung hat einen um ca. 10% besseren Wirkungsgrad als die Enviolo*. Eine gut geschmierte Kette läuft zudem mit weniger Widerstand als ein Gates-Riemen. Ob und wie sehr sich der Unterschied im Wirkungsgrad auswirkt wird kontrovers diskutiert, bspw. im Pedelecforum. Die Meinungen gehen stark auseinander, angefangen von "Kein Unterschied gemerkt" bis hin zu "Enviolo fühlt sich an wie Waten durch den Schlamm" und "20% mehr Akkuverbrauch mit Enviolo". Hier muss jeder selbst wissen, ob sich das Fahrgefühl subjektiv unterscheidet und welcher Antrieb mehr zusagt.
Preis: der Anschaffungspreis der Kettenschaltung ist deutlich geringer. Es stellt sich die Frage, ob die Wartungskosten der Kettenschaltung geringer sind als die Wartungskosten der Enviolo. Falls dem so wäre, ließe sich relativ leicht berechnen wie lange es dauert, bis sich die Enviolo amortisiert. Leider habe ich dazu keine Daten.
Warum habe ich mich für das S10 mit Kettenschaltung entschieden?
1.) Auch wenn man bei der Anschaffung des GSD tief ins Portemonnaie greift: 800 EUR Unterschied sind viel Geld, und die habe ich erst einmal gespart.
2.) Ich betreibe seit vielen Jahren Radsport und bin daher an Kettenschaltungen gewöhnt. Pflege und Wartung sind für mich kein Problem. Es stört mich nicht, bei technischen Geräten deren technische Eigenarten berücksichtigen zu müssen, ganz im Gegenteil!
Wann sollte man sich für die Enviolo (S00) entscheiden?
- wenn man viel im Stadtverkehr fahren will
- wenn man nicht über das Radfahren nachdenken möchte und kein Interesse hat, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen
- wenn man "schaltfaul" ist und im Auto bspw. eine Automatik bevorzugt
- wenn der Preisunterschied keine Rolle spielt
Wann sollte man die Kettenschaltung (S10) nehmen?
- wenn man eher preissensitiv ist
- wenn man erfahrener oder gar ein sportlicher Radfahrer ist und Wert auf ein authentisches / spritziges Fahrverhalten legt
- wenn man bereit ist, sich ein wenig mit der Technik zu beschäftigen
- wenn es bei der Reichweite / Akkukapazität auf jeden km ankommt
*Quelle:
https://fahrradzukunft.de/17/wirkungsgradmessungen-an-nabenschaltungen-2/